Interview: „Wir haben den Korken von der Flasche gezogen“

19. Mai 2022

Die Diskussion um den christlichen Religionsunterricht geht in die Verlängerung / Interview mit Dr. Kerstin Gäfgen-Track und Dr. Jörg Dieter Wächter

Seit einem Jahr ist die Idee eines christlichen Religionsunterrichts (CRU) in der Welt, der den bisherigen evangelischen und katholischen Unterricht ablösen soll. Der Beratungsprozess über ein Positionspapier der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen sollte im Mai mit einem Symposion zu Ende gehen. Nun wurde der Prozess noch einmal bis zum Herbst verlängert. Doch es gibt schon eine Reihe von Erkenntnissen, wie Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, und Dr. Jörg-Dieter Wächter, Leiter der Hauptabteilung Bildung im Bistum Hildesheim, im Interview berichten.

Frau Gäfgen-Track, vor einem halben Jahr haben wir schon einmal über den Beratungsprozess zum Christlichen Religionsunterricht gesprochen. Was hat sich seitdem getan?

Kerstin Gäfgen-Track: Ich hätte nie vermutet, dass der Beratungsprozess nach einem halben Jahr nochmal so viel Fahrt aufnimmt und es noch so viel Gesprächsbedarf gibt.

Herr Wächter, wie schätzen Sie die Stimmung an den Schulen bezüglich des CRU ein?

Jörg-Dieter Wächter: Die Stimmung ist nach meiner Einschätzung nach wie vor sehr positiv. Ich habe eher den Eindruck, dass die Schulen eine gewisse Ungeduld haben. Die sagen, ihr habt doch vor einem Jahr schon angekündigt, dass ihr das wollt. Warum ist das noch nicht umgesetzt?

Andere finden, das geht alles zu schnell.

Gäfgen-Track: Die gibt es auch. Aber sie sagen zugleich, sie hätten gern schon das ganze Material und die Schulbücher zur Verfügung, damit sie wissen, wie es geht. Das ist eher die Gruppe, die sich Sorgen macht, weil sie sich nicht gut vorbereitet fühlt. Das ist ja auch verständlich.

Können Sie in Prozent ausdrücken, wie viele Befürworter und Kritiker des CRU es gibt?

Gäfgen-Track: Ich würde sagen, 80 Prozent sind dafür.

Wächter: Wir freuen uns über die Zustimmung, aber auch die Kritiker mit ihren Fragen sind uns wichtig. Ein Beispiel: Ist es wirklich so schlimm mit dem Religionsunterricht in Niedersachsen, dass wir jetzt über solche Maßnahmen nachdenken müssen? Da gibt es ein Informationsdefizit.

Laut Ihrem Positionspapier ist es so schlimm.

Wächter: Ja. Aber Sie dürfen auch davon ausgehen, dass nicht jeder das Positionspapier so intensiv wahrgenommen hat…

„Suboptimal, aber alternativlos“

Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen
Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen

Herr Wächter, kann man eigentlich sagen, ob die Katholiken eher für den CRU sind als die Evangelischen – oder umgekehrt?

Wächter: Aus meiner Sicht kann man das so nicht sagen. Katholischerseits gibt es in manchen Regionen Gegenwind. Im Bistum Hildesheim scheint die Kritik stärker zu sein als im Bistum Osnabrück. Aber die Gründe dafür kann ich Ihnen beim besten Willen nicht benennen. Wir haben im Bistum Osnabrück starke katholische Kerngebiete wie das Emsland, dort gibt es ein sehr entspanntes Verhältnis zu diesem Vorschlag.

Gleich zu Beginn gab es bei vielen Unmut, weil sie von dem Positionspapier der Schulreferentinnen und -referenten überrumpelt wurden. Es entstand der Eindruck, dass der Beratungsprozess vielleicht doch nicht so ergebnisoffen ist wie behauptet. Hätten Sie das rückblickend anders gemacht?

Gäfgen-Track: Nein.

Wächter: Nein.

Gäfgen-Track: Es gibt das schöne Wort von Professor Bernd Schröder: Das Verfahren war suboptimal, aber alternativlos.

Welche Frage wurde Ihnen in den Beratungen am häufigsten gestellt?

Wächter: Das Stichwort Beheimatung fiel oft. Wie gelingt in Zukunft die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation? Einerseits ist es ein Missverständnis, dass dies Aufgabe des Religionsunterrichts sei. Andererseits spricht daraus eine Sorge, die man ernst nehmen muss, die ich aber persönlich eher in der Gemeinde verorten würde. Eine weitere Frage war: Muss denn alles flächendeckend sein? Kann man nicht ein differenziertes Modell machen? Da haben wir klar gesagt, dass wir ein einfaches Modell wollen, das gut zu organisieren ist. Außerdem würde das Land da gar nicht mitspielen.

Gäfgen-Track: Bei uns schält sich besonders die Frage heraus: Was ist eigentlich evangelisch? Über das Katholische hat man so seine Vorstellungen, manchmal auch Vorurteile, das bewegt sich zwischen Papst und Wallfahrt. Aber was ist das Profil evangelischer Spiritualität? Pilgern tun wir ja inzwischen auch. Kirchenmusik ist eher spezifisch evangelisch. Oder liegen die Unterschiede woanders? Diese Diskussion halte ich für einen Gewinn des Prozesses und sie interessiert auch die katholische Seite. Es ist nicht automatisch alles besser, wenn man Frauen ordiniert. Aber es ist theologisch richtig und gut, dass die evangelischen Kirchen es tun. Manchmal ist man ja schnell mal geschichtsvergessen. Eine Aktion wie „#OutInChurch“ hätten wir vor 30 Jahren in der evangelischen Kirche auch gut gebrauchen können.

„Wegweisendes Konzept auch für andere“

Dr. Jörg-Dieter Wächter, Leiter der Hauptabteilung Bildung im Bistum Hildesheim
Dr. Jörg-Dieter Wächter, Leiter der Hauptabteilung Bildung im Bistum Hildesheim

Worüber haben Sie sich im Beratungsprozess gefreut?

Gäfgen-Track: Dass der Religionsunterricht endlich mal ein Thema ist, mit dem sich auch innerkirchlich beschäftigt wird.

Wächter: Ich habe mich gefreut über die Resonanz, die weit über dieses Bundesland hinausgegangen ist. Wir haben immer betont, dass wir ein Modell für Niedersachsen machen. In dem Prozess haben wir aber erkannt, für wie wegweisend andere Landeskirchen und Bistümer unser Konzept halten.

Gibt es bereits andere Bundesländer, die Ihrem Beispiel folgen wollen? Oder lehnen die sich entspannt zurück und warten erstmal ab, was in Niedersachsen so ausgetüftelt wird?

Gäfgen-Track: Wir haben den Korken von der Flasche gezogen. Es gibt bundesweit viel Druck im System, die Religionspädagogik hat schon länger gesagt, ihr Kirchen müsst euch über die Zukunft des Religionsunterrichts Gedanken machen. Jetzt haben wir die Diskussion angestoßen.

Sie haben mit Bezug auf den CRU immer wieder auf die ökumenische Verbundenheit in Niedersachsen und die jetzt schon vorhandenen Gemeinsamkeiten in den Lehrplänen verwiesen. Erwartungsgemäß gab es sowohl von evangelischen wie von katholischen Lehrkräften Unbehagen mit Blick auf das Trennende der Konfessionen. Wie gehen Sie mit diesem Unbehagen um?

Wächter: Man muss das ernst nehmen. Das Unbehagen ist ja erstmal nichts Rationales, sondern etwas Gefühltes. Ich kann das gut verstehen, aber es liegt daran, dass die Berührungsflächen zur jeweils anderen Konfession zu gering sind.

Gäfgen-Track: Wir stellen immer wieder fest, dass dann so Erfahrungen kommen wie: Vor 30 Jahren konnte ich bei einer katholischen Beerdigung nicht an der Eucharistie teilnehmen, deshalb will ich das nicht. Auf beiden Seiten fehlen Informationen darüber, wie es heute aussieht. Wir brauchen Räume der Begegnung.

Aber die gemeinsame Eucharistie bei ökumenischen Schulgottesdiensten wird es ja vermutlich nach wie vor nicht geben.

Wächter: Richtig. Wir haben immer gesagt, dass wir in der Schule ökumenisch nicht weiter sein können als die Kirchen insgesamt.

Ich hatte Sie bislang so verstanden, dass Sie mit dem CRU durchaus ökumenische Vorreiter sein wollen.

Gäfgen-Track: Es wird ökumenisch was bewegen, das glauben wir schon.

Wächter: Das glaube ich auch. Und trotzdem können wir in der ökumenischen Praxis, in der Eucharistiefeier beispielsweise, nicht so tun, als gäbe es keine trennenden Auffassungen.

Gäfgen-Track: Bei Schulgottesdiensten stellt sich außerdem die Frage, wie man andere Religionen und auch Konfessionslose mit einbezieht. Da kann man weder einfach so eine katholische Messe noch einen evangelischen Gottesdienst halten.

Bisweilen kam Kritik am Namen christlicher Religionsunterricht, weil auch Freikirchen und Orthodoxe christlich sind, in Ihrem Modell aber nicht vorkommen. Was entgegnen Sie?

Wächter: Die Kritik ist erstmal berechtigt, sie wurde von Beginn an vorgetragen. Das hat sehr früh dazu geführt, dass wir Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche aufgenommen haben. Wir haben erste Schritte überlegt, wie wir orthodoxe Inhalte in den christlichen Religionsunterricht mit aufnehmen können. Da haben wie sehr deutlich aus den Rückmeldungen des Beratungsprozesses gelernt und es auch in die Fortschreibung des Konzepts mit einfließen lassen.

Sind die Gespräche durch den Krieg in der Ukraine belastet?

Wächter: Ja, natürlich. Aber für den Priester der russisch-orthodoxen Kirche nicht minder. Christen aller Konfessionen sollten gemeinsam für den Frieden einstehen.

Das scheint Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, anders zu sehen.

Gäfgen-Track: Kyrills Position ist unfassbar. Für mich ist das theologisch jenseits dessen, was denkbar ist. Die Vermischung von Religion und Politik ist entsetzlich. Aber auch die orthodoxe Kirche ist vielstimmig. Was den CRU betrifft: Da ist die russisch-orthodoxe Kirche auf uns zugekommen und hat gesagt, wir wollen dabei sein.

Gibt es ähnliche Gespräche mit den Freikirchen?

Gäfgen-Track: Die wollen wir jetzt aufnehmen. Wir sind in Niedersachsen eine der wenigen evangelischen Kirchen bundesweit, die mit keiner Freikirche eine Vereinbarung über den Religionsunterricht hat. Die müssten wir längst haben. Man muss aber sagen: Anders als bei den Orthodoxen gibt es bis heute offiziell vonseiten der Freikirchen überhaupt keine Reaktion.

Warum musste der nunmehr ein Jahr andauernde Beratungsprozess noch einmal verlängert werden?

Wächter: Wir haben ihn streng genommen nicht verlängert. Wir wollten Mitte Mai ein Bischöfliches Symposion veranstalten, das der Abschluss der Beratungen sein sollte – mit großer Beteiligung von Lehrkräften. Das Kultusministerium hat uns aber signalisiert, dass es wegen der Pandemie für diese relativ große Gruppe keine Reisegenehmigung gibt. Es ging dann darum, beim Veranstaltungsort Stornogebühren zu vermeiden, also haben wir das Ganze verschoben. Kaum hatten wir es verschoben, kam der Hinweis, dass es doch gegangen wäre. Wir haben kurzerhand die Zeit genutzt und noch viele weitere Termine ermöglicht, zum Beispiel ein juristisches Symposion im Juli, auf dem das frisch vorliegende Gutachten diskutiert werden soll.

Sie haben lange auf das verfassungsrechtliche Gutachten zum CRU gewartet – also auf eine Aussage darüber, ob der geplante CRU juristisch überhaupt möglich ist. Hätte man das nicht vorher klären können, bevor man die Pferde scheu macht?

Wächter: Im Positionspapier wird schon deutlich, dass unsere Hausjuristen umfangreiche rechtliche Betrachtungen angestellt haben. Wir waren uns sehr sicher, dass das rechtlich funktioniert. Dann gab es aber aus den Reihen der Bischöfe den Wunsch, das besser nochmal juristisch extern gegenprüfen zu lassen – also haben wir das beauftragt.

Und ist das Gutachten in Ihrem Sinne?

Gäfgen-Track: Ja.

Wächter: Definitiv ja.

Was wird dann bei dem Symposion besprochen?

Gäfgen-Track: Da werden andere Juristen schauen, ob sie das Gutachten teilen. Es gibt ja bei den Juristen wie bei den Theologen eine Spannbreite an Interpretationen. Das Gutachten enthält außerdem Hinweise, was wir beachten müssen, wenn wir den CRU wirklich umsetzen werden – was wir ja alle hoffen. Aber nochmal: Noch ist nichts entschieden.

Vor einem halben Jahr waren Sie beide zuversichtlich, dass der CRU im Schuljahr 2023/2024 an den Start gehen könnte. Sehen Sie das immer noch so?

Gäfgen-Track: Wenn es nach uns ginge, ja. Aber wir müssen realistisch sein. Jetzt, wo wir den Prozess verlängert haben, wird es 2024/2025. Wir haben in den Diskussionen auch gelernt, dass wir parallel zu den Gesprächen mit dem Land eine Konzeptionierungsphase brauchen. Da werden wir mit vielen Beteiligten überlegen, was der CRU für die Kerncurricula und ganz konkret für die Ausbildung im Referendariat oder an der Uni bedeutet. Die Beratungen haben jetzt schon viel geklärt, es hat viele gute Gespräche gegeben – wir würden es nochmal machen.

Die Fragen stellte Lothar Veit, Freier Journalist