„Abitur hat ein bisschen was von Auswildern“

20. Juni 2022

Interview mit Matthias Hülsmann vom RPI Loccum

Das Abitur markiert das Ende einer Lebensphase und den Beginn von mehr Eigenverantwortlichkeit. Da könne sich schnell ein Gefühl von Überforderung einstellen, sagt Matthias Hülsmann, Dozent für Theologische Fortbildung und Kirchenpädagogik am Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI). Deshalb tue es gut, gemeinsam Abiturgottesdienste zu feiern, als schulische Gemeinschaft, mit den Lehrkräften, die die zurückliegenden Jahre begleitet haben.

Schuljahresabschlussgottesdienste oder Abi-Gottesdienste waren vor Corona durchaus im Kommen. Gilt das immer noch? Oder muss man wieder bei Null anfangen?

Matthias Hülsmann: Abi-Gottesdienste sind nach wie vor wichtig und beliebt. Daran hat sich auch durch Corona nichts geändert. Gerade hatte ich eine Tagung in Loccum, bei der es um die Vorbereitung auf das Abitur im Fach Religion ging. Und viele der teilnehmenden Lehrkräfte erzählten von ihren bevorstehenden Abiturgottesdiensten. Der Trend ist ungebrochen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass der Wunsch nach präsentischen und festlichen Veranstaltungen durch Corona und Homeschooling noch zugenommen hat. Nach den Sommerferien wissen wir mehr.

Was ist bei der Planung zu beachten?

Hülsmann: Wer zum ersten Mal einen Abiturgottesdienst plant, sollte sich am besten bei jemandem informieren, der bereits Erfahrungen damit gemacht hat. Das ist der Grund, weshalb ich zuerst von meinen eigenen Fehlern erzähle, wenn ich auf das Thema angesprochen werde. Zum Beispiel: Es ist ganz wichtig, als erstes die Schulleitung zu informieren, dass man einen solchen Gottesdienst plant. Möglicherweise kann die Schulleitung in der Einladung für die Entlassungsfeier auf den Gottesdienst hinweisen; so ist gewährleistet, dass alle Abiturient*innen und Angehörigen davon erfahren. Die Verantwortlichen für den Stundenplan müssen informiert werden. Eine Kirche, die Aula oder ein anderer Veranstaltungsraum müssen frühzeitig gebucht werden. Die Küsterin der Kirche, der Hausmeister der Aula, ein Mensch, der sich mit der Mikrofonanlage und der weiteren Technik auskennt – sie alle müssen den Termin kennen. Und ganz wichtig: Diese Räume und Menschen müssen auch für die Generalprobe einen oder zwei Tage vor dem Gottesdienst gebucht werden. Das gilt auch für die Musik: rechtzeitig den Schulchor, Musiklehrer*in, Organist*in, Schul-Band fragen und einplanen. Und dann kommt die inhaltliche Vorbereitung, da sind ja auch wieder ganz unterschiedliche Menschen beteiligt: Schüler*innen aus dem Reli-Kurs oder solche, die einfach Lust auf den Gottesdienst haben, vielleicht auch die Schüler*innenvertretung oder Kolleg*innen.

Welche Botschaften sind in Corona-Zeiten wichtig?

Hülsmann: Ich glaube, die Botschaft hat sich durch Corona nicht verändert. Das Abitur stellt einen tiefgreifenden Abschluss in der Biografie eines jungen Erwachsenen dar. Ein Einschulungsgottesdienst in der ersten Klasse markiert einen Beginn, ein Begrüßungsgottesdienst in der fünften Klasse markiert einen Übergang, aber ein Abiturgottesdienst markiert in der Regel das Ende einer Lebensphase, in der Eltern, Schule und vorgegebene Strukturen das Leben der jungen Menschen geprägt haben. Es hat ein bisschen was von „Auswildern“. Plötzlich müssen die ehemaligen Schüler*innen biografische Entscheidungen treffen, für deren Folgen sie die Verantwortung tragen: Ausbildung, Studium, Freundschaft, Beziehung, Wohnung, Lebensunterhalt. Und dann auch noch Corona, Klima und Ukraine. Da kann sich schnell ein Gefühl von Überforderung einstellen. Der Abiturgottesdienst kann deutlich machen: Du verlässt jetzt zwar den vertrauten Lebensraum Schule, aber du gerätst deshalb nicht in eine metaphysische Obdachlosigkeit. Beim Segen wird jedem Abiturienten und jeder Abiturientin im Gottesdienst persönlich zugesprochen: Gott begleitet dich auf deinem Weg, und er sieht liebevoll auf dich. Er hat dich nicht nur ins Leben gerufen, er will auch, dass dein Leben gelingt. Ich finde, etwas Wertvolleres kann man jungen Erwachsenen kaum mit auf den Weg geben.

Die Fragen stellte Michaela Veit-Engelmann, Öffentlichkeitsbeauftragte des RPI Loccum

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Das Religionspädagogische Institut Loccum (RPI) ist eine Einrichtung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die anteilig von der Landeskirche sowie von der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen getragen ist. Das RPI bietet Fort- und Weiterbildungen sowie Vokationstagungen für Lehrer*innen aller Schulformen und -stufen im Fach Evangelische Religion an, berät die Landeskirche sowie die Konföderation bei den verschiedenen pädagogischen Aufgabenbereichen kirchlicher Arbeit und übernimmt gutachterliche Tätigkeiten für die Konföderation.